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Sieben Kinder, 13 Socken, 15 Schuhe und ein Smartphone

  • Autorenbild: Klaus Theissing
    Klaus Theissing
  • 29. Sept. 2019
  • 3 Min. Lesezeit

Aktualisiert: 30. Dez. 2020


Die Aussicht ins Tal ist kitschig grün und sieht aus, wie in einem Film.
Dunkle Wolken hingen tief über dem Wallis

Im Sommer 2014 war das Wetter in der Schweiz grausig: Über der Adria lagen immer neue Tiefdruckgebiete, die sich dort voll Wasser saugten und damit Norditalien und die Südschweiz in ein einziges großes Planschbecken verwandelten. Andreas wartete schon seit Wochen auf ein Wolkenloch, denn er sass wie auf heissen Kohlen, da sein Halbtax ablief. Aber er wollte diesen Urlaub noch unbedingt erleben: Einmal mit der Bahn über den Gotthard Richtung Brig reisen, bevor der Gotthard-Basistunnel fertig gestellt wird. Auf die Tour freute er sich schon seit Monaten.

An einem Sonntag im August reiste er endlich und die Wolken hingen noch bedrohlich tief über den Bergen.


Nachmittags, kurz hinter Andermatt, stiegen immer mehr Wochenendausflügler in den Zug. Es war kalt und feucht draussen und die Reisenden pellten sich im Waggon aus ihrer nassen Wanderkluft. Der Wagen füllte sich und Andreas raffte seine sieben Sachen zusammen, schaffte Platz. Unvermittelt stand ein rund 35 Jahre alter, braungelockter Typ vor ihm und fragte nach den Plätzen neben und gegenüber von Andreas. Er sprach kein reines hochdeutsch, der Zungenschlag war jedoch eindeutig britisch. Hinter ihm tauchten Kinder auf – immer mehr und mehr Kinder und Andreas hörte bei fünf Kindern zu zählen auf. Ein weiterer blonder Mann setzte sich ebenfalls gegenüber und schob „Little Ruthy“ zu „Tom“ (beide im KiTa-Alter) auf die Plätze gegenüber Andreas.


Der kalte Gletscherbach zwischen schneebedeckten Bergen
Baden im Gletscherbach – eine wahre „cold water challenge“!

Den Kindern war langweilig, sie zogen die schweren Schuhe aus, manche auch die Socken… Tom schlief sofort ein – der wohl lange Tag forderte seinen Tribut. Die blond gelockte Ruthy hatte ein kleines Dirndl an und sah mit ihren dicken Wanderstiefeln aus, wie eine kleine „Heidi“. Sie wären zum Ziegen streicheln gewesen. Denn bei Andermatt könnte man eine Ziege ausleihen und sie – wie einen Hund – einen Tag lang Gassi führen. Das wäre ja sooooo toll gewesen! Kurz darauf begann die wohl gerade fünfjährige mit einem Bein zu wippen und schlug dabei jedes mal an Andreas Schienbein. „Stopp kickin‘ on my leg, please!“ radebrechte Andreas. „Little Ruthy“ verbesserte reflexartig: „Stopp kickin‘ at my leg!“ Der Braungelockte klärte die Situation sofort, entschuldigte sich im Namen des Kindes für die doppelte Ungezogenheit der Tochter und fragte bei der Gelegenheit gleich, ob man die Steckdose hinter Andreas für sein Smartphone nutzen dürfe. Das E-Ticket sei darauf und ohne Strom befürchtete er mangels Ticket aus dem Zug geworfen zu werden – „Bitte sehr!“.


Eine der zig katholischen Kirchen zwischen Andermatt und Brig.
Eine der zig katholischen Kirchen zwischen Andermatt und Brig.

Der Zug schaukelte unendliche Zeiten durch das Wallis, Station nach Station wurden Richtung Brig abgespult. Hinter Bitsch, der vorletzten Station vor Brig, kommentierte der braungelockte Chef der Truppe: „Socken an, dann auch die Schuhe, wir steigen gleich um!“ Alle sieben Kinder versuchten nun, ihre Socken zu finden. Es gelang fast allen. Andreas grinste, wie nur ein kinderloser Mann über diese Szene grinsen konnte, und dachte sich: „Dieser Kelch ging an mir vorüber!“. „Little Ruthy“ suchte noch immer nach einem ihrer Socken und fand ihn nicht. Tommy hatte dafür eine doppelte Sockenschicht an. Der Zug lief in Brig ein und der Chef kommandierte: „Wir steigen um, die Socken können wir im nächsten Zug sortieren!“.

Andreas setzte nun noch «einen drauf»: „Sie haben alle Socken, Schuhe, …?“ Der Braungelockte unterbrach, sichtlich an der Grenze der Belastbarkeit: „Socken und Schuhe sind doch egal. Hauptsache wir haben alle Kinder dabei!“ Darauf Andreas: „… und das Smartphone?“ Er reagierte sofort: „Das Smartphone – natürlich, danke! Ich hätt’s glatt vergessen!“ Er drehte sich um und zog es samt Ladegerät aus der Steckdose.


Uf Widerluege.


Eine wahrlich "andermattige" Anekdote aus dem Leben eines Reisenden. - Gleisturbine

Über den Autor

Klaus Theissing arbeitet als freiberuflicher IT-Berater im Bereich Web und Unternehmens-Kommunikation für Unternehmen in besonderen Kommunikationssituationen. Darüber hinaus schreibt er als Autor, fotografiert Europa und betreibt seit dem Jahr 2013 als Hobby seinen Bahnblog MyBahn unter theissing.wordpress.com.

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